Jetzt reichts aber! Wenn sich Eltern über ihre Kinder ärgern

Mit Kindern ist es ja so eine Sache: Mal bereiten sie ihren Eltern richtig Freude, mal wieder ganz schön Ärger. Der Grund für das eine ist der gleiche, wie für das andere: Verhalten. Doch was entscheidet darüber, ob sich Eltern freuen oder ärgern? Und warum empfinden es Eltern manchmal so unterschiedlich, wie sich Kinder verhalten? In diesem Artikel erfahren Sie es.

Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass Sie sich furchtbar darüber ärgern, was Ihre Kinder tun, während Ihr Partner völlig gelassen bleibt? Oder dass Sie etwas bei einem fremden Kind überhaupt nicht stört, was Sie bei Ihrem eigenen niemals tolerieren würden? Wahrscheinlich schon. Und das ist auch völlig normal. Denn das Empfinden von Verhalten kann sehr unterschiedlich sein.


Das Verhaltensrechteck nach Thomas Gordon

Eine Erklärung dafür liefert das Verhaltensrechteck nach Thomas Gordon: Es besagt, dass jeder Mensch zwischen annehmbarem und unannehmbarem Verhalten unterscheidet. Die Grenze bildet die sogenannte Annahmelinie - und diese kann wiederum stark variieren. Genauer gesagt ist die Position der Annahmelinie von drei Einflussfaktoren abhängig: von der Umwelt, von der anderen Person und von Ihrer eigenen Person.


Die Umwelt

Wo, wann und in welchem Umfeld sich das jeweilige Verhalten abspielt, macht einen großen Unterschied für Ihre Annahmebereitschaft: So wird es Sie zum Beispiel nicht stören, wenn Ihr Kind auf einer Wiese Fußball spielt, sehr wohl aber, wenn es das im Wohnzimmer macht. Es wird für Sie wahrscheinlich auch in Ordnung sein, wenn Ihr Kind zuhause beim Essen nur Unterwäsche trägt - im Restaurant nicht. Und Sie werden auch kein Problem damit haben, wenn sich Ihr Kind an einem heißen Sommertag mit dem Gartenschlauch nass spritzt - an einem frostigen Wintertag jedoch schon.


Die andere Person

Der zweite Faktor, der Annahme oder Ablehnung beeinflusst, ist, wer das konkrete Verhalten zeigt: Braucht Ihr zweijähriges Kind noch eine Windel, werden Sie das mit Sicherheit gut annehmen können - bei Ihrem sechsjährigen Kind wahrscheinlich weniger. Dafür werden Sie das größere Kind am Spielplatz alleine das Klettergerüst hochklettern lassen - das kleinere nicht. Und wenn Ihnen ein fremdes Kind im Supermarkt die Zunge zeigt, finden Sie es vermutlich weit weniger schlimm, als wenn es Ihr Kind bei jemandem machen würde.


Die eigene Person

Last but not least bestimmt natürlich auch Ihre persönliche Stimmung und Verfassung darüber, ob sich Verhalten über- oder unterhalb Ihrer Annahmelinie befindet: An einem stressigen Wochentag zehrt es an Ihren Nerven, wenn Ihr Kind beim Frühstück trödelt - am entspannten Wochenende nicht. Lautstarker Gesang auf dem Autorücksitz ist mit rasenden Kopfschmerzen kaum zu ertragen - während Sie sonst mit Ihrem Kind inbrünstig mitsingen. Und der Wunsch Ihres Kindes nach einer weiteren Gute-Nacht-Geschichte lässt sich auch leichter erfüllen, wenn nicht noch ein Berg Arbeit auf Sie wartet.


Wenn Eltern unterschiedliche Annahmelinien haben 

So wie jeder Mensch einzigartig ist, ist auch sein Empfinden von Verhalten einzigartig. Was für den einen völlig in Ordnung ist, ist für den anderen ein absolutes No-Go. Ob jemand Verhalten annehmend oder ablehnend gegenüber steht, entscheidet sich in dem Augenblick, in dem es durch das individuelle Verhaltensfenster betrachtet wird. Das ist bei Eltern nicht anders - und das ist auch gut so.

Wenn Eltern in Bezug auf das Verhalten Ihrer Kinder unterschiedliche Annahmelinien haben, führt das allerdings durchaus immer wieder zu Reibungspunkten im Familienverband. Nämlich dann, wenn der (Irr-)Glaube besteht, dass sich Eltern in der Kindererziehung immer einig sein müssen. Die gute Nachricht lautet aber: Müssen sie nicht - denn Kinder können sich ganz gut mit unterschiedlichen Annahmelinien arrangieren.


Wie Kinder damit umgehen

Kinder wissen ganz genau, dass Mama und Papa unterschiedliche Grenzen haben - und sie wissen auch, dass sich diese Grenze immer wieder mal verändert. Denn ihr kleines Gehirn analysiert jede einzelne, situationsabhängige Reaktion der Eltern ganz genau und speichert sie ab.  Im Laufe der Zeit ergeben sich daraus gewisse Muster, wer wann wie auf welches Verhalten reagiert - und wo welche Regeln gelten. Die meisten Kinder akzeptieren das auch - oder reagieren eben entsprechend darauf. Dann wird eben nur bei Papa auf der Couch gegessen, nur Mama aufs WC begleitet und nur bei der Freundin widerstandslos aufgeräumt. 

Kinder sind ihren Eltern somit häufig einen Schritt voraus - denn sie haben erkannt, dass gleiches Verhalten je nach Person, Situation oder Umgebung unterschiedliche Reaktionen hervorrufen kann. Das, was Kinder praktisch unbewusst machen, können Eltern im GORDON Familientraining lernen: Verhaltensweisen in annehmbar und unannehmbar einzuteilen und bewusst darauf zu reagieren.


Wenn Sie sich also das nächste Mal über Ihr Kind ärgern, machen Sie sich bewusst, dass es nicht an Ihrem Kind liegt, sondern an Ihrer persönlichen Annahmelinie.

Birgit Mayrhofer