Sei brav, sonst …: Der Mythos vom schlimmen Kind

Würden wir Eltern danach fragen, was sie sich am meisten von ihren Kindern wünschen, wäre „Brav sein“ vermutlich ganz oben auf der Wunschliste. Oft scheint dieser Wunsch jedoch unerfüllbar zu sein. Aber woran liegt das? Warum ist brav sein für Kinder oft so schwierig? In diesem Artikel finden Sie die Erklärung.

Haben Sie schon einmal darauf geachtet, wie häufig Sie das Wort „Brav“ verwenden, wenn Sie mit Ihren Kindern oder über sie sprechen? Relativ oft, oder? Das ist auch nicht weiter verwunderlich, denn alle Eltern reden so - und zwar seit Generationen. Bis zu einem gewissen Alter ist „brav sein“ ein Synonym dafür, was sich das soziale Umfeld von einem Kind erwartet. Es beginnt beim Säugling, der „brav“ schläft, geht über das Kindergartenkind, das „brav“ spielt bis hin zum Schulkind, das „brav“ lernt. 


Wenn du brav bist, dann …

Ein braves Kind ist die Idealvorstellung der meisten Eltern. Ein absolut nachvollziehbarer und legitimer Wunsch. Denn es verursacht weniger Ärger, ist unkomplizierter, hinterlässt einen besseren Eindruck und - vor allem - es bringt Eltern seltener in unangenehme Situationen, als ein „schlimmes“ Kind. 

Kein Wunder also, dass mit Aussagen wie „Wenn du brav bist, dann …“ oder „Sei brav, sonst …“ auch oft Erziehungsmaßnahmen daran gekoppelt werden. Von klein auf vermitteln Eltern ihren Kindern damit, dass ihr Verhalten Folgen nach sich zieht - positive oder negative, Belohnung oder Konsequenz. 

Was Eltern erwarten und Kinder brauchen

Und damit sind wir auch schon beim Knackpunkt. „Brav oder schlimm“ sagt nichts darüber aus, wie ein Kind tatsächlich ist, sondern stellt lediglich eine Beurteilung seines Verhaltens dar. Oder vielmehr, ob das Verhalten des Kindes dem entspricht, was Eltern, Großeltern oder wer auch immer gerade als passend empfinden.  

Durch ihr sensibles Wesen spürt das Kind die Erwartungen seines Umfeldes genau. Und eigentlich möchte es diese Erwartungen auch erfüllen. Es möchte seinen Bezugspersonen doch gefallen. Und es weiß, was es bedeutet, wenn es nicht brav ist. Nämlich, dass Mama schimpft, Papa schlechte Laune hat oder Oma kein Eis mehr kauft. Alles Folgen, die das Kind so gar nicht mag - und trotzdem kann es nicht anders.

Eine ganz schön große Last, die da auf den kleinen Schultern liegt, oder? Vor allem deshalb, weil ein Kind mit seinem Verhalten nicht das Ziel verfolgt, seine Eltern zu ärgern. Es ist nicht absichtlich schlimm, sondern bittet mit seinem Verhalten um Hilfe. Denn hinter jedem Verhalten steckt ein Gefühl, dem das Kind Ausdruck verleiht, ein Bedürfnis, das befriedigt werden will. 


Warum es keine schlimmen Kinder gibt

Dieser Aspekt rückt die Kategorisierung von Verhalten - und die unterschiedlichen Reaktionen der Erwachsenen - in ein völlig anderes Licht:

Wenn ein Baby weint, weil es Hunger hat, würde niemand auf die Idee kommen, es als schlimm zu bezeichnen. Beim trotzenden Kleinkind, das im Supermarkt eine bühnenreife Show hinlegt, sieht es schon etwas anders aus. Ganz zu schweigen vom halbwüchsigen Schulkind, das bei jeder Gelegenheit gegen seine Eltern rebelliert. 

Dabei liegt immer dasselbe zugrunde: ein Bedürfnis. Das Baby braucht Nahrung, das Kleinkind möchte seine Persönlichkeit entwickeln und das Schulkind testet, ob die Grenzen der Eltern auch tatsächlich halten, weil es Sicherheit will. Der Unterschied liegt allerdings darin, dass das Verhalten unterschiedlich bewertet wird. Während sich das Baby in den Augen der Eltern so verhält, wie sich ein Baby eben verhält, erfüllen die beiden anderen Kinder die Erwartungen nicht mehr - ihr Verhalten ist für die Eltern unangenehm, das Kind wird nicht mehr als brav empfunden. 

Und damit schließt sich der Kreis: Ein schlimmes Kind tut nichts anderes, als ein braves - es verhält sich so, dass seine Bedürfnisse befriedigt werden. Nur ist dieses spezielle Verhalten für Sie eben unannehmbar. Der Zusammenhang zwischen Verhalten und Bedürfnissen wird unter anderem auch im GORDON Familientraining näher beleuchtet. Hilfreiche Methoden, wie z. B. Aktives Zuhören, unterstützen Sie dabei, zu erkennen, warum sich Ihr Kind in bestimmten Situationen so benimmt, wie es sich eben benimmt. 


Wenn Sie also genug davon haben, sich über Ihr Kind zu ärgern und mit ihm zu schimpfen, dann versuchen Sie zu verstehen, welches Bedürfnis hinter seinem Verhalten steckt. Sie werden die Veränderung merken - an Ihnen und an Ihrem Kind!

Julia Buchmayr